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Appellationsgericht
Dreiergericht
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SB.2019.63
URTEIL
vom 19. November 2020
Mitwirkende
lic. iur. Liselotte Henz, lic. iur. Barbara Schneider, Dr. Carl Gustav
Mez
und Gerichtsschreiber
Dr. Beat Jucker
Beteiligte
A____, geb. [...] Berufungskläger
[...] Beschuldigter
vertreten durch [...], Rechtsanwältin,
[...]
gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
Berufungsbeklagte
Binningerstrasse 21, 4001 Basel
Gegenstand
Berufung gegen ein Urteil des
Einzelgerichts in Strafsachen
vom 7. Februar 2019 (ES.2018.602)
betreffend mehrfacher grober
Verletzung der Verkehrsregeln, mehrfacher einfacher Verletzung der
Verkehrsregeln sowie Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz
Sachverhalt
Mit Urteil des
Einzelgerichts in Strafsachen vom 7. Februar 2019 wurde A____ (Berufungskläger)
– auf Einsprache gegen einen Strafbefehl vom 22. März 2018 hin – der mehrfachen
groben Verletzung der Verkehrsregeln, der mehrfachen einfachen Verletzung der
Verkehrsregeln, des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs sowie der
Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz schuldig erklärt und zu einer bedingt
vollziehbaren Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu CHF 160.– (Probezeit zwei Jahre)
sowie zu einer Busse in Höhe von CHF 2‘500.– (bei schuldhafter
Nichtbezahlung 16 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt. Darüber hinaus wurden
ihm Verfahrenskosten in Höhe von CHF 455.30 sowie eine Urteilsgebühr von CHF 400.–
auferlegt.
Gegen dieses
Urteil hat der Berufungskläger am 8. Februar 2019 Berufung angemeldet, mit
Eingabe vom 23. Mai 2019 Berufung erklärt und dieselbe mit Schreiben vom 2. März
2020 begründet. Es wird beantragt, es sei das angefochtene Urteil kosten- und
entschädigungsfällig aufzuheben und A____ von Schuld und Strafe freizusprechen.
Zudem sei in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils der Zeuge B____
rückwirkend zum Verfahren nicht zuzulassen und die von ihm erhobenen Beweise
aus dem Verfahren zu entfernen. Darüber hinaus sei dem Berufungskläger eine der
Verfahrensdauer angemessene (Partei)Entschädigung zu entrichten. Eventualiter
sei der Berufungskläger in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils milder zu
bestrafen. Die Staatsanwaltschaft beantragt mit Berufungsantwort vom 24. April
2020, die Berufung kostenpflichtig abzuweisen. Hierzu hat der Berufungskläger
am 29. Juli 2020 repliziert. Die Staatsanwaltschaft hat am 14. August 2020
unter Aufrechterhaltung ihres Antrags auf Abweisung der Berufung auf die
Einreichung einer Duplik verzichtet.
Wie mit
verfahrensleitender Verfügung vom 23. Juli 2019 angekündigt, ergeht das
vorliegende Urteil im schriftlichen Verfahren. Die Einzelheiten der
Parteistandpunkte ergeben sich ‒ soweit für den Entscheid von Relevanz
‒ aus dem erstinstanzlichen Urteil und aus den nachfolgenden Erwägungen.
Erwägungen
1.
1.1 Gemäss
Art. 398 Abs. 1 der Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) ist die Berufung gegen
Urteile erstinstanzlicher Gerichte zulässig, mit denen das Verfahren ganz oder
teilweise abgeschlossen wird, was vorliegend der Fall ist. Zuständiges
Berufungsgericht ist nach § 88 Abs. 1 und 92 Abs. 1 Ziff. 1 des
Gerichtsorganisationsgesetzes (GOG, SG 154.100) ein Dreiergericht des
Appellationsgerichts. Der Berufungskläger ist vom angefochtenen Urteil berührt
und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung bzw. Abänderung,
sodass er gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO zur Erklärung der Berufung legitimiert
ist. Auf das form- und fristgerecht eingereichte Rechtsmittel ist daher
einzutreten.
1.2 Gemäss
Art. 398 Abs. 3 StPO können mit der Berufung Rechtsverletzungen,
einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, Rechtsverweigerung
und Rechtsverzögerung, die unvollständige oder unrichtige Feststellung des
Sachverhalts sowie Unangemessenheit gerügt werden.
1.3 Mit
dem Einverständnis der Parteien kann die Berufung gestützt auf Art. 406 Abs. 2
StPO in einem schriftlichen Verfahren behandelt werden, wenn die Anwesenheit
der beschuldigten Person nicht erforderlich ist bzw. Urteile eines
Einzelgerichts Gegenstand der Berufung sind. Vorliegend ist beides der Fall und
liegt das explizit geäusserte Einverständnis von Berufungskläger und
Staatsanwaltschaft vor, weshalb die Berufung im schriftlichen Verfahren auf dem
Zirkulationsweg beurteilt werden kann.
2.
2.1
2.1.1 Einige
der dem Berufungskläger vorgeworfenen Delikte sind auf Video aufgezeichnet und durch
die Vorinstanzen als Beweismittel verwendet worden. Das Bundesgericht hat im
Zusammenhang mit Videoaufzeichnungen im Strassenverkehr kürzlich entschieden, dass
die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung (AFV) einen schweren
Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäss Artikel 13
Absatz 2 der Bundesverfassung (BV, SR 101) bedeute. Schwere
Grundrechtseingriffe benötigten eine klare und ausdrückliche Grundlage in einem
formellen Gesetz. Für einen effektiven Schutz des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung sei es insbesondere erforderlich, dass der Verwendungszweck, der
Umfang der Erhebung sowie die Aufbewahrung und Löschung der Daten hinreichend
bestimmt seien. Das zur Diskussion stehende Thurgauer Polizeigesetz bilde keine
hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für den Einsatz der AFV. Für die
Strassenverkehrsteilnehmer sei nicht vorhersehbar, welche Informationen gesammelt,
aufbewahrt und mit anderen Datenbanken verknüpft beziehungsweise abgeglichen würden.
Nicht ausreichend geregelt sei weiter die Aufbewahrung und Vernichtung der
Daten. Dem Thurgauer Polizeigesetz lasse sich insbesondere keine Pflicht
entnehmen, die Daten unverzüglich und spurlos zu löschen, falls sich beim Datenabgleich
kein Treffer ergeben hat (BGE 146 I 11 E. 3 S. 13 ff.).
2.1.2 Anders
wäre allenfalls dann zu entscheiden gewesen, wenn die entsprechenden
Videoaufnahmen durch die AFV des Grenzwachtkorps (GWK) erhoben worden wären. Das
GWK betreibt das System AFV auf der Basis von Art. 110f des Zollgesetzes (ZG,
SR 631.0) in Verbindung mit der Verordnung über den Einsatz von Bildaufnahme-,
Bildaufzeichnungs- und anderen Überwachungsgeräten durch die Eidgenössische
Zollverwaltung (SR 631.053). Auch wenn keine gesetzlichen Grundlagen für ein
gemeinsam genutztes AFV-System von Bund und Kantonen bestehen, haben die
Kantonspolizeien gemäss Art. 112 Abs. 2 lit. e in Verbindung mit Art. 114 ZG die
Möglichkeit, im Rahmen der Amtshilfe Fahndungs- und Analysebegehren an das GWK
zu stellen. Ein solches Vorgehen dürfte aufgrund der in Gesetz und Verordnung
vorgesehenen Einschränkungen den oben zitierten bundesgerichtlichen
Anforderungen entsprechen.
2.2 Im
vorliegenden Fall wurden die dem Berufungskläger vorgeworfenen Verfehlungen
indes nicht mittels AFV, sondern per übergeordnetem Videomanagementsystem
(UEVM) aufgezeichnet. Gemäss diesbezüglicher Weisung des Bundesamts für
Strassen (ASTRA) betreffend Videoüberwachung (Ausgabe 2020 V1.00 abrufbar unter
https://www.astra.admin.ch/astra/de/home/suche.html#videoanlagen, zuletzt
besucht am 5. November 2020) erlauben die Videoanlagen eine konstante Beurteilung
des Strassenverkehrs, sodass das Verkehrsmanagement frühzeitig
verkehrsbeeinflussende Massnahmen einleiten und im Ereignisfall die Situation
durch die Sicherheitsverantwortlichen überwacht werden kann. Diese
Videoüberwachung fusst auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage (Art.
57c des Strassenverkehrsgesetzes [SVG, SR 741.01] bzw. Art. 51 der
Nationalstrassenverordnung [NSV, SR 725.111]). Eine gesetzliche Grundlage
für die Videoüberwachung zum Zweck der Strafverfolgung findet sich hierin aber genauso
wenig wie in Art. 89g SVG, wo es ausschliesslich um die Datenbekanntgabe
betreffend Verkehrszulassung geht. Auch in den kantonalen Erlassen findet sich
keine entsprechende diesbezügliche Grundlage. Zwar sind im Basler Polizeigesetz
(PolG, SG 510.100) im Kapitel «Umgang mit personenbezogenen Informationen und
Daten» (§ 57 ff.) einige grundsätzliche Aspekte der Bearbeitung von
Personendaten angeführt. Indes wird die Überwachung des Strassenverkehrs per
Videoaufnahme nicht speziell geregelt, sodass die Videoaufzeichnungen der
inkriminierten Fahrt des Berufungsklägers mangels ausreichender gesetzlicher Grundlage
rechtswidrig erhoben worden sind. Ihre Verwertung als Beweis wäre gemäss Art.
141 Abs. 2 StPO allenfalls dann zulässig, wenn es um die Aufklärung
schwerer Straftaten gehen würde. Gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts
fallen die in casu zur Diskussion stehenden Verkehrsdelikte aber nicht unter
diese Kategorie (BGE 137 I 218 E. 2.3.5.2 S. 224; BGer 6B_1468/2019 vom 1. September
2020 E. 1.4, 6B_1188/2018 vom 26. September 2019 E. 4). Die zu den zu
beurteilenden Vorfällen verfügbaren Videoaufnahmen sind daher nicht verwertbar.
3.
3.1
3.1.1 Als
Beweismittel verbleiben damit «bloss» die Angaben von B____. Aus seinem Rapport
vom 15. September 2017 ergibt sich, dass er am Samstag, 1. April 2017, kurz
nach 12.00 Uhr, auf der Autobahn A2 im Schwarzwaldtunnel beobachten konnte, wie
der Berufungskläger ohne den rechten Richtungsblinker zu betätigen, vom ersten
Überholstreifen vor sein Fahrzeug (auf der Normalspur) gewechselt hat. Dabei hat
B____ auch bemerkt, dass hinten am Motorrad> kein Kontrollschild angebracht war.
Daraufhin sei der Berufungskläger rechtsseitig an zwei im ersten
Überholstreifen fahrenden Fahrzeugen vorbeigefahren. Danach habe A____ –
wiederum ohne den Fahrstreifenwechsel mit dem Blinker anzuzeigen – auf den
linken Fahrstreifen der Autobahnausfahrt «Freiburgerbrücke» gewechselt. In der
Folge habe der Berufungskläger die Autobahn verlassen und sei in Richtung
Hochbergerstrasse gefahren. In diesem Moment habe sich der Verkehr vor der
Einmündung Schwarzwaldallee/Fasanenstrasse im linken und rechten
Geradeausfahrstreifen zurückgestaut. Der Berufungskläger habe den Platz
innerhalb der Kolonne nicht gehalten und sei in der Linksabbiegefahrspur bis
nach vorne gefahren, wo er wegen eines Rotlichts in erster Position angehalten
habe. Als die Lichtsignalanlage für den linken Geradeausfahrstreifen «grün» angezeigt
habe, sei der Berufungskläger losgefahren und habe dabei ohne den rechten
Richtungsblinker zu betätigen, auf den linken Geradeausfahrstreifen gewechselt.
Dabei habe er das Rotlicht für seine Fahrtrichtung missachtet, wobei eine
Behinderung nicht stattgefunden habe. Als er (B____) den Berufungskläger bei
der Coop-Tankstelle an der Hochbergerstrasse 62 kontrollieren konnte, habe dieser
seinen Führerausweis nicht bei sich gehabt. Als er sich später die mittels UEVM
der Autobahn aufgezeichnete Fahrt auf Video angeschaut habe, habe er
festgestellt, dass der Berufungskläger auf der Autobahn noch weitere
Verkehrsübertretungen begangen habe (Akten S. 22 ff.).
3.1.2 Anlässlich
der vorinstanzlichen Hauptverhandlung gab B____ zur Protokoll, er sei im Schwarzwaldtunnel
auf dem rechten Streifen gefahren, als ein <Motorrad, an welchem kein
Kontrollschild befestigt gewesen sei, neben ihm vorbeigefahren sei. Der
Motorradfahrer habe dann ohne zu blinken auf seinen Fahrstreifen (denjenigen
von B____) gewechselt. A____ sei in der Folge auf der Autobahn in Richtung Hochbergerstrasse
weitergefahren und habe wieder nicht geblinkt. Als der Berufungskläger kurz
darauf von der Autobahn links in Richtung Erlenmatt-Quartier gefahren sei, sei
dieser – obwohl er «rot» gehabt habe – losgefahren und habe einen
Fahrstreifenwechsel in seine Spur (diejenige von B____) vollzogen (dass der
Berufungskläger den Richtungsblinker wiederum nicht betätigt hätte, wird nicht
mehr geschildert). Da habe er beschlossen, den Motorradfahrer einer Kontrolle
zu unterziehen, was er bei der Coop-Tankstelle denn auch getan habe, wobei der
Berufungskläger keinen Führerausweis auf sich getragen habe. Da er gedacht habe,
dass allenfalls noch andere «Sachen» wie beispielsweise ein Unfall passiert seien,
habe er sich dann nachträglich die Videoaufzeichnungen angeschaut (Akten S. 153
f.).
3.1.3 Aus
dem soeben Referierten ergibt sich, dass der speziell für das Erkennen von
Verkehrswidrigkeiten geschulte und seit über 30 Jahren im Polizeidienst
stehende B____ entgegen der auch im Rechtsmittelverfahren mehrfach geäusserten Ansicht
des Berufungsklägers (Akten S. 65 ff., 216 ff., 224, 248 ff.) deutlich mehr als
das fehlende Kontrollschild festgestellt hat. Er hat unmissverständlich
abgegrenzt, welche Widerhandlungen er mit eigenen Augen wahrgenommen und welche
er erst auf den nicht verwertbaren Videoaufnahmen beobachtet hat. Wenn die
Verteidigung suggeriert, der Zeuge habe den Berufungskläger nicht immer im Auge
gehabt (Akten S. 217), ist dies als aktenwidrig (Akten S. 28, 155)
zurückzuweisen. Dass auf der Vorladung vom 7. April 2017 bloss das fehlende
Kontrollschild als Grund der Vorladung bezeichnet war (Akten S. 36 f.), indiziert
nicht, dass B____ die restlichen Delikte vor der Sichtung der Videoaufnahmen noch
unbekannt waren, zumal gemäss Art. 201 Abs. 2 lit. c StPO aus taktischen
Gründen sogar auf die Nennung von Delikten verzichtet werden kann. Kommt dazu,
dass Personen im polizeilichen Ermittlungsverfahren zum Zwecke der Befragung,
der Identitätsfeststellung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung ohne
Beachtung besonderer Formen und Fristen vorgeladen werden können (Art. 206
Abs. 1 StPO). Darüber hinaus wurde aus der Vorladung auch ausreichend klar, in
welcher Funktion (Auskunftsperson) der Berufungskläger einvernommen werden
sollte (vgl. dazu Weder, in:
Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur StPO, 2. Auflage, Zürich 2014,
Art. 201 N 34). Von einer Irreführung des Berufungsklägers kann keine Rede sein.
3.2
3.2.1 Soweit
die Verteidigung wie bereits vor den Vorinstanzen vorbringt, es gehe nicht an,
dass B____ in seiner Freizeit Verkehrsdelikte ermittle (Akten S. 151, 216 f.), ist
darauf hinzuweisen, dass Art. 24 Abs. 1 PolG Angehörige des Polizeikorps
ermächtigt, ausserhalb des Dienstes einzugreifen, wenn dies nötig ist. Gemäss § 4
Abs. 1 Ziff. 3 und 4 der Polizeiverordnung (PolV, SG 510.110) sollen sich Angehörige
des Polizeikorps ausser Dienst namentlich dann einschalten, wenn eine
erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unmittelbar droht
bzw. wenn bei einer erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung
im Dienst befindliche Beamtinnen und Beamten nicht innert nützlicher Frist
verfügbar sind.
3.2.2 Vorliegend
ist beides der Fall: Auch wenn die von B____ beobachteten Delikte «bloss» Übertretungen
darstellen (vgl. E. 3.1 und 4.1), müssen sie in ihrer Summe dennoch als
erheblich im Sinne von § 4 Abs. 1 Ziff. 4 PolV eingestuft werden. So sah
sich B____ (erst) zum Eingreifen veranlasst, als der Berufungskläger – nachdem
er bereits diverse Verkehrsregeln verletzt hatte – auch noch ein Rotlicht
missachtete (Akten S. 23, 153 f.; vgl. dazu schon E. 3.1). Da der
Berufungskläger vorschriftwidrig kein Kontrollschild angebracht hatte, hätte seine
Identität auch unter Beizug einer sich im Dienst befindlichen Polizeipatrouille
im Nachhinein nicht eruiert werden können. Aufgrund der Umstände war ex ante
auch nicht auszuschliessen, dass Drogen, Alkohol oder gar ein medizinisches
Problem Ursache der inkriminierten Fahrweise war und insofern eine
weitergehende Gefahr für andere Verkehrsteilnehmende im Sinne von § 4 Abs. 1
Ziff. 3 PolV bestand. An der Rechtmässigkeit des Vorgehens ändert auch der Entschluss
des Polizisten, den Berufungskläger nach der Kontrolle weiterfahren zu lassen,
nichts. B____ hatte den Berufungskläger zur Rede gestellt, seine Personalien
aufgenommen und keine Anzeichen von Alkohol oder Drogen ausmachen können,
aufgrund dessen eine Weiterfahrt nach Hause hätte unterbunden werden müssen (Akten
S. 25, 154). Der Verzicht auf weitergehende Massnahmen wie etwa die
Sicherstellung des Motorrads oder den Beizug einer Polizeipatrouille entsprach –
wie das Strafgericht zutreffend erwogen hat (vgl. vorinstanzliches Urteil
S. 3) – unter diesen Umständen dem Gebot der Verhältnismässigkeit.
3.3
3.3.1 Grundsätzlich
gelten die in Art. 56 StPO geregelten Ausstandsgründe auch für Polizeibeamte (Riklin, StPO Kommentar, 2. Auflage,
Zürich 2014, Art. 56 N 2). Es müssen aber auch bei ihnen konkrete Umstände vorliegen,
die Misstrauen in deren Unparteilichkeit wecken. Gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. b StPO
müsste ein Polizist dann in den Ausstand treten bzw. dürfte dann keine weiteren
Untersuchungshandlungen mehr tätigen, wenn er als Zeuge am zur Diskussion
stehenden Vorfall beteiligt war und schon in dieser Eigenschaft befragt worden ist
(Boog, in: Basler Kommentar, 2. Auflage
2014, Art. 56 StPO N 22).
3.3.2 Vorliegend
liegt allein schon deshalb kein Ausstandsgrund vor, weil B____ zum Zeitpunkt der
kritisierten Verfahrenshandlungen noch gar nicht als Zeuge befragt worden ist.
Darüber hinaus hat B____ wie vorstehend ausgeführt (vgl. dazu E. 3.2), zu Recht
ausser Dienst eingegriffen. Demgemäss sind seine im Rapport vom 15. September
2017 festgehaltenen Beobachtungen analog zu Ereignissen, welche im Dienst
beobachtet wurden, zu behandeln. Dass ein Polizeibeamter seine Feststellungen
in einem Rapport festhält und in diesem Zusammenhang auch weitere Abklärungen
trifft (Halterermittlung) respektive Beweise sicherstellt (Videoaufnahmen),
gehört im Sinne von Art. 306 StPO zu seinen eigentlichen Aufgaben und
beeinträchtigt seine Zeugeneigenschaft in Bezug auf eben jenen von ihm beobachteten
Sachverhalt nicht. Es ist denn auch nicht eine Ausnahme, sondern eher die
Regel, dass Polizisten über ihre eigenen in einem polizeilichen Bericht
erfassten Wahrnehmungen zur Wahrung des Konfrontationsrechts vor Gericht als
Zeugen einvernommen werden. Auch ist – wie dies der Zeuge nachvollziehbar
geschildert hat (Akten S. 154) – nicht ungewöhnlich, dass ein Rapport erst
einige Zeit nach dem Vorfall geschrieben wird und die Überweisung von der
Verkehrspolizei an die Abteilung «Ermittlungen» nochmals eine gewisse Zeit in
Anspruch nimmt. Es ist gerichtsnotorisch, dass die Verkehrspolizei am Limit
arbeitet. Dass B____ den Berufungskläger offenbar ohne interne Befugnis zur
Einvernahme vom 13. April 2017 vorgeladen hat, ist ein Versehen und kann keinen
Ausstandsgrund begründen. Damit ist ohne Belang, ob die Einvernahme abgebrochen
wurde oder gar nicht stattgefunden hat (Akten S. 155, 217 f.).
3.3.3 Nach
dem Gesagten liegt weder ein Ausstandsgrund gemäss Art. 56 Abs. 1 lit. b
StPO noch ein solcher im Sinne von Art. 56 lit. f StPO vor. Kommt dazu, dass
die Verteidigung die Akten am 27. Februar 2018 zugestellt erhalten hat, das
Ausstandsgesuch jedoch erst am 31. Mai 2018 und damit drei Monate nach
Kenntnisnahme eines vermeintlichen Ausstandsgrunds gestellt hat. Dadurch hat
der Berufungskläger – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Berufungsantwort vom
24. April 2020 zu Recht festhält – seinen Anspruch zufolge verspäteter
Geltendmachung ohnehin verwirkt (vgl. dazu BGer 1B_47/2019 vom 20. Februar 2019
E. 3.3, 1B_514/2017 vom 19. April 2018 E. 3.2).
3.4 Es
trifft zwar zu, dass der Berufungskläger anlässlich seiner Kontrolle durch B____
nicht über seine Rechte orientiert bzw. solches zumindest nicht protokolliert
worden ist (Art. 158 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 143 Abs. 2 StPO; BGer
6B_234/2019 vom 5. Dezember 2019 E. 1.3; vgl. dazu auch Ruckstuhl, in: Basler Kommentar, 2. Auflage 2014, Art. 158
StPO N 7 ff.). Deren Fehlen ist aber – wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt
hat (vorinstanzliches Urteil S. 4 f.) – nicht von Relevanz, da die anlässlich
dieser Befragung gemachten Aussagen keinen Einfluss auf die Entscheidfindung
haben und der Berufungskläger gemäss § 34 Abs. 2 PolG zur Bekanntgabe seiner
Personalien verpflichtet war.
3.5 Nach
dem Gesagten ist nicht ersichtlich, inwiefern die Glaubwürdigkeit von B____
«schwer angeschlagen» sein soll, zumal auch keinerlei Falschbezichtigungsmotiv des
Zeugen ersichtlich ist. Insgesamt ist auf die Angaben von B____ vollumfänglich
abzustellen.
4.
4.1 Aufgrund
der Aussagen von B____ ist erstellt, dass der Berufungskläger zumindest folgende
Delikte begangen hat:
-
Fahren ohne Kontrollschild (Art. 93 Abs. 2 lit. a sowie Art. 29 SVG und
Art. 96 der Verordnung über die technischen Anforderungen an Strassenfahrzeuge [VTS,
SR 741.41])
-
zweimaliges Nichtanzeigen der Richtungsänderung (Art. 90 Abs. 1 und Art.
39 Abs. 1 lit. a SVG sowie Art. 28 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung [VRV, SR
741.11])
-
Missachten eines Rotlichts ohne Behinderung (Art. 90 Abs. 1 und Art. 27
Abs. 1 SVG sowie Art. 68 Abs. 1bis der Signalisationsverordnung
[SSV, SR 741.21])
-
Nichtbeibehalten seines Platzes innerhalb der Kolonne (Art. 90 Abs. 1
und Art. 47 Abs. 2 SVG)
-
Widerhandlung gegen die Einspurordnung (Art. 90 Abs. 1 und Art. 27 Abs.
1 SVG sowie Art. 74 Abs. 2 SSV)
-
Nichtmitführen des Führerausweises (Art. 99 Ziff. 3 und Art. 10 Abs. 4
SVG).
Hingegen ist der
Berufungskläger von der Anklage wegen mehrfacher grober Verletzung der
Verkehrsregeln sowie mehrfacher einfacher Verletzung der Verkehrsregeln (viermaliges
Nichtanzeigen der Richtungsänderung) zufolge Unverwertbarkeit der
Videoaufnahmen freizusprechen.
4.2
4.2.1 Die
durch B____ beobachteten Delikte stellen allesamt Übertretungen dar, die an
sich im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden könnten. Indes überstiege der
Gesamtbussenbetrag den in Art. 5 Abs. 2 des Ordnungsbussengesetzes (OBG, SR
314.1) vorgesehenen Maximalbetrag von CHF 600.–, sodass alle Widerhandlungen im
ordentlichen Verfahren zu ahnden sind. Der Strafrahmen für eine Übertretung nach
Art. 90 Abs. 1 SVG beträgt Busse bis zu CHF 10'000.– (Art. 106 Abs. 1 des
Strafgesetzbuches [StGB, SR 311.0]). Der Deliktsmehrheit ist in Anwendung von
Art. 49 Abs. 1 StGB strafschärfend Rechnung zu tragen.
4.2.2 Das
Verschulden von A____ wiegt insbesondere bezüglich des Missachtens eines
Rotlichts nicht mehr ganz leicht, wobei diesbezüglich immerhin zu
berücksichtigen ist, dass es zu keiner Behinderung anderer
Verkehrsteilnehmenden kam. Das Nichtbeibehalten des Platzes innerhalb der
Kolonne sowie die Widerhandlung gegen die Einspurordnung stehen in
unmittelbarem Zusammenhang dazu, weshalb sie sich nicht stark straferhöhend
auswirken. Der Vorwurf des zweimaligen Nichtanzeigens der Richtungsänderung
wiegt ebenfalls nicht mehr ganz leicht, stellt doch eine überraschende
Richtungsänderung eine nicht unwesentliche Gefahrenquelle dar. Bezüglich des Fahrens
ohne Kontrollschild ist zu Gunsten des Berufungsklägers anzunehmen, dass ihm
der Wechselrahmen für das Kontrollschild effektiv gestohlen worden war, zumal
er Letzteres in einem Fach unter dem Motorradsattel mitführte. Das
Nichtmitführen des Führerausweises stellt sodann eher eine Nebensächlichkeit
dar. Dem Polizeirapport vom 15. September 2017 (Akten S. 21 ff.) kann hinsichtlich
der Täterkomponenten schliesslich eine gewisse Einsicht und Reue zugehalten werden,
was nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck kommt, dass es seit den zur Diskussion
stehenden Delikten zu keinen Verkehrsregelverletzungen mehr kam.
4.2.3 Ausgehend
von einer Busse in Höhe von CHF 250.– für das Missachten eines Rotlichts,
erscheint eine Gesamtbusse von CHF 650.– in Anwendung von Art. 49 Abs. 1 StGB
nach dem vorstehend Referierten dem Verschulden und den persönlichen
Verhältnissen des Berufungsklägers als angemessen (CHF 250.–, zuzüglich CHF 40.–
und CHF 80.– für das Nichtbeibehalten des Platzes innerhalb der Kolonne sowie
die Widerhandlung gegen die Einspurordnung, zuzüglich CHF 180.– für das zweimalige
Nichtanzeigen der Richtungsänderung, zuzüglich CHF 120.– für das Fahren ohne
Kontrollschild, zuzüglich CHF 20.– für das Nichtmitführen des Führerausweises,
abzüglich CHF 40.– aufgrund der persönlichen Verhältnisse). Diese wird bei
schuldhafter Nichtbezahlung in eine Ersatzfreiheitsstrafe von sieben Tagen
umgewandelt (Art. 106 Abs. 2 StGB).
5.
5.1 Die
schuldig gesprochene Person hat – sofern keine gesetzlichen Ausnahmen vorliegen
– gestützt auf Art. 426 Abs. 1 StPO sämtliche kausalen Verfahrenskosten zu
tragen (BGer 6B_811/2014 vom 13. März 2015 E. 1.4). Die Verfahrenskosten werden
demnach gemäss Verursacherprinzip verlegt.
5.2 Wie
dem Kostenbogen der Verkehrspolizei entnommen werden kann (Akten S. 49),
basieren die darin bezeichneten Aufwandsposten auf der nicht verwertbaren
Videoüberwachung. Diese Kosten in Höhe von CHF 200.– hat der Berufungskläger
nicht zu tragen. Die darüberhinausgehenden Aufwendungen der Staatsanwaltschaft in
Höhe von CHF 255.30 (Akten S. 75) wären auch angefallen, wenn von Beginn
an «bloss» wegen den vorliegend zu beurteilenden Übertretungen ermittelt worden
wäre. Diese sind dem Berufungskläger zusammen mit einer reduzierten
erstinstanzliche Urteilsgebühr im Betrag von CHF 150.– zu überbinden.
6.
6.1 Für
die Kosten des Rechtsmittelverfahrens kommt Art. 428 Abs. 1 StPO zum Tragen. Ob
bzw. inwieweit eine Partei im Sinne dieser Bestimmung obsiegt oder unterliegt,
hängt davon ab, in welchem Ausmass ihre vor der zweiten Instanz gestellten
Anträge gutgeheissen werden (BGer 6B_1025/2014 vom 9. Februar 2015 E. 2.4.1).
6.2 Der
Berufungskläger erreicht im Berufungsverfahren einen vollumfänglichen
Freispruch von den gewichtigeren Vorwürfen der groben Verletzung der
Verkehrsregeln und einen Teilfreispruch in Bezug auf den Vorwurf der mehrfachen
einfachen Verkehrsregelverletzung. Es rechtfertigt sich deshalb, A____ die Kosten
des zweitinstanzlichen Verfahrens mit Einschluss einer um 2/3 reduzierten Urteilsgebühr
von insgesamt CHF 500.– (inklusive Kanzleiauslagen, zuzüglich allfälliger
übriger Auslagen) aufzuerlegen (Art. 428 Abs. 1 StPO in Verbindung mit §
21 Abs. 1 des Gerichtsgebührenreglements [GGR, SG 154.810]).
7.
Dem
Berufungskläger ist entsprechend dem Ausgang des Verfahrens für die erste und
zweite Instanz eine reduzierte Parteientschädigung auszurichten (Art. 429 Abs.
1 lit. a StPO). Im Rechtsmittelverfahren hat der Berufungskläger keine
Kostennote eingereicht, sodass der Aufwand seiner Verteidigerin zu schätzen
ist. Zwar hat diese mit der Berufungserklärung, der Berufungsbegründung und der
Replik insgesamt drei Rechtsschriften eingereicht. Indes kannte sie den
Prozessstoff bereits aus dem erstinstanzlichen- bzw. dem Einspracheverfahren
und unterscheiden sich die im Berufungsverfahren eingereichten Schriftstücke
nur unwesentlich davon. Es rechtfertigt sich daher, für das Berufungsverfahren
die Hälfte des für die erste Instanz akzeptierten Aufwands von 21,25 Stunden,
also 10,625 Stunden (zuzüglich Mehrwertsteuer), zu vergüten. Entsprechend dem
Ausgang des Rechtsmittelverfahrens ist der sich daraus ergebende Gesamtbetrag
um 1/3 zu reduzieren. Für den genauen Betrag wird auf das Dispositiv verwiesen.
Demgemäss
erkennt das Appellationsgericht (Dreiergericht):
://: A____ wird – in teilweiser Gutheissung
seiner Berufung – der mehrfachen Verletzung der Verkehrsregeln, des Fahrens
ohne Kontrollschild sowie des Nichtmitführens des Führerausweises schuldig
erklärt und verurteilt zu einer Busse von CHF 650.– (bei schuldhafter
Nichtbezahlung sieben Tage Ersatzfreiheitsstrafe),
in Anwendung von Art. 90 Abs. 1, 93 Abs. 2 lit. a, 99
Ziff. 3, 10 Abs. 4, 27 Abs. 1, 29, 39 Abs. 1 lit. a, 47 Abs. 2 SVG, Art.
28 Abs. 1 VRV, Art. 68 Abs. 1bis und 74 Abs. 2 SSV sowie Art.
96 VTS.
A____ wird von der Anklage wegen mehrfacher grober
Verletzung der Verkehrsregeln und mehrfacher einfacher Verletzung der
Verkehrsregeln freigesprochen.
A____ trägt die reduzierten Kosten von CHF 255.30 und
eine reduzierte Urteilsgebühr von CHF 150.‒ für das erstinstanzliche
Verfahren sowie die Kosten des zweitinstanzlichen Verfahrens mit Einschluss
einer reduzierten Urteilsgebühr von CHF 500.‒ (inklusive Kanzleiauslagen,
zuzüglich allfälliger übriger Auslagen).
A____ wird eine reduzierte Parteientschädigung von
insgesamt CHF 5'682.‒ (einschliesslich Auslagen und Mehrwertsteuer) aus
der Gerichtskasse zugesprochen.
Mitteilung an:
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Berufungskläger
-
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
-
Strafgericht Basel-Stadt
- Kantonspolizei
Basel-Stadt, Verkehrsabteilung
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Die Präsidentin Der
Gerichtsschreiber
lic. iur.
Liselotte Henz Dr. Beat Jucker
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen
Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des
Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde
in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am
letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht oder zu
dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer diplomatischen oder
konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs.
1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art.
42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das
Bundesgericht.